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21 mai 2018






                   FRANZ KAFKA

                   BETRACHTUNG



Für M. B.  

                  
             




Kinder auf der Landstraße


Ich hörte die Wagen an dem Gartengitter vorüberfahren, manchmal sah ich
sie auch durch die schwach bewegten Lücken im Laub. Wie krachte in dem
heißen Sommer das Holz in ihren Speichen und Deichseln! Arbeiter kamen
von den Feldern und lachten, daß es eine Schande war.

Ich saß auf unserer kleinen Schaukel, ich ruhte mich gerade aus zwischen
den Bäumen im Garten meiner Eltern.

Vor dem Gitter hörte es nicht auf. Kinder im Laufschritt waren im
Augenblick vorüber; Getreidewagen mit Männern und Frauen auf den Garben
und rings herum verdunkelten die Blumenbeete; gegen Abend sah ich einen
Herrn mit einem Stock langsam spazieren gehn und paar Mädchen, die Arm
in Arm ihm entgegenkamen, traten grüßend ins seitliche Gras.

Dann flogen Vögel wie sprühend auf, ich folgte ihnen mit den Blicken,
sah, wie sie in einem Atemzug stiegen, bis ich nicht mehr glaubte, daß
sie stiegen, sondern daß ich falle, und fest mich an den Seilen haltend
aus Schwäche ein wenig zu schaukeln anfing. Bald schaukelte ich stärker,
als die Luft schon kühler wehte und statt der fliegenden Vögel zitternde
Sterne erschienen.

Bei Kerzenlicht bekam ich mein Nachtmahl. Oft hatte ich beide Arme auf
der Holzplatte und, schon müde, biß ich in mein Butterbrot. Die stark
durchbrochenen Vorhänge bauschten sich im warmen Wind, und manchmal
hielt sie einer, der draußen vorüberging, mit seinen Händen fest, wenn
er mich besser sehen und mit mir reden wollte. Meistens verlöschte die
Kerze bald und in dem dunklen Kerzenrauch trieben sich noch eine
Zeitlang die versammelten Mücken herum. Fragte mich einer vom Fenster
aus, so sah ich ihn an, als schaue ich ins Gebirge oder in die bloße
Luft, und auch ihm war an einer Antwort nicht viel gelegen.

Sprang dann einer über die Fensterbrüstung und meldete, die anderen
seien schon vor dem Haus, so stand ich freilich seufzend auf.

»Nein, warum seufzst Du so? Was ist denn geschehn? Ist es ein
besonderes, nie gut zu machendes Unglück? Werden wir uns nie davon
erholen können? Ist wirklich alles verloren?«

Nichts war verloren. Wir liefen vor das Haus. »Gott sei Dank, da seid
Ihr endlich!« -- »Du kommst halt immer zu spät!« -- »Wieso denn ich?«
-- »Gerade Du, bleib zu Hause, wenn Du nicht mitwillst.« -- »Keine
Gnaden!« -- »Was? Keine Gnaden? Wie redest Du?«

Wir durchstießen den Abend mit dem Kopf. Es gab keine Tages- und keine
Nachtzeit. Bald rieben sich unsere Westenknöpfe aneinander wie Zähne,
bald liefen wir in gleichbleibender Entfernung, Feuer im Mund, wie Tiere
in den Tropen. Wie Kürassiere in alten Kriegen, stampfend und hoch in
der Luft, trieben wir einander die kurze Gasse hinunter und mit diesem
Anlauf in den Beinen die Landstraße weiter hinauf. Einzelne traten in
den Straßengraben, kaum verschwanden sie vor der dunklen Böschung,
standen sie schon wie fremde Leute oben auf dem Feldweg und schauten
herab.

»Kommt doch herunter!« -- »Kommt zuerst herauf!« -- »Damit Ihr uns
herunterwerfet, fällt uns nicht ein, so gescheit sind wir noch.« -- »So
feig seid Ihr, wollt Ihr sagen. Kommt nur, kommt!« -- »Wirklich? Ihr?
Gerade Ihr werdet uns hinunterwerfen? Wie müßtet Ihr aussehen?«

Wir machten den Angriff, wurden vor die Brust gestoßen und legten uns
in das Gras des Straßengrabens, fallend und freiwillig. Alles war
gleichmäßig erwärmt, wir spürten nicht Wärme, nicht Kälte im Gras, nur
müde wurde man.

Wenn man sich auf die rechte Seite drehte, die Hand unters Ohr gab, da
wollte man gerne einschlafen. Zwar wollte man sich noch einmal aufraffen
mit erhobenem Kinn, dafür aber in einen tieferen Graben fallen. Dann
wollte man, den Arm quer vorgehalten, die Beine schiefgeweht, sich gegen
die Luft werfen und wieder bestimmt in einen noch tieferen Graben
fallen. Und damit wollte man gar nicht aufhören.

Wie man sich im letzten Graben richtig zum Schlafen aufs äußerste
strecken würde, besonders in den Knien, daran dachte man noch kaum und
lag, zum Weinen aufgelegt, wie krank auf dem Rücken. Man zwinkerte, wenn
einmal ein Junge, die Ellbogen bei den Hüften, mit dunklen Sohlen über
uns von der Böschung auf die Straße sprang.

Den Mond sah man schon in einiger Höhe, ein Postwagen fuhr in seinem
Licht vorbei. Ein schwacher Wind erhob sich allgemein, auch im Graben
fühlte man ihn, und in der Nähe fing der Wald zu rauschen an. Da lag
einem nicht mehr soviel daran, allein zu sein.

»Wo seid Ihr?« -- »Kommt her!« -- »Alle zusammen!« -- »Was versteckst Du
Dich, laß den Unsinn!« -- »Wißt Ihr nicht, daß die Post schon vorüber
ist?« -- »Aber nein! Schon vorüber?« -- »Natürlich, während Du geschlafen
hast, ist sie vorübergefahren.« -- »Ich habe geschlafen? Nein so etwas!«
-- »Schweig nur, man sieht es Dir doch an.« -- »Aber ich bitte Dich.« --
»Kommt!«

Wir liefen enger beisammen, manche reichten einander die Hände, den
Kopf konnte man nicht genug hoch haben, weil es abwärts ging. Einer
schrie einen indianischen Kriegsruf heraus, wir bekamen in die Beine
einen Galopp wie niemals, bei den Sprüngen hob uns in den Hüften der
Wind. Nichts hätte uns aufhalten können; wir waren so im Laufe, daß wir
selbst beim Überholen die Arme verschränken und ruhig uns umsehen
konnten.

Auf der Wildbachbrücke blieben wir stehn; die weiter gelaufen waren,
kehrten zurück. Das Wasser unten schlug an Steine und Wurzeln, als wäre
es nicht schon spät abend. Es gab keinen Grund dafür, warum nicht einer
auf das Geländer der Brücke sprang.

Hinter Gebüschen in der Ferne fuhr ein Eisenbahnzug heraus, alle
Coupées waren beleuchtet, die Glasfenster sicher herabgelassen. Einer
von uns begann einen Gassenhauer zu singen, aber wir alle wollten
singen. Wir sangen viel rascher als der Zug fuhr, wir schaukelten die
Arme, weil die Stimme nicht genügte, wir kamen mit unseren Stimmen in
ein Gedränge, in dem uns wohl war. Wenn man seine Stimme unter andere
mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen.

So sangen wir, den Wald im Rücken, den fernen Reisenden in die Ohren.
Die Erwachsenen wachten noch im Dorfe, die Mütter richteten die Betten
für die Nacht.

Es war schon Zeit. Ich küßte den, der bei mir stand, reichte den drei
Nächsten nur so die Hände, begann den Weg zurückzulaufen, keiner rief
mich. Bei der ersten Kreuzung, wo sie mich nicht mehr sehen konnten, bog
ich ein und lief auf Feldwegen wieder in den Wald. Ich strebte zu der
Stadt im Süden hin, von der es in unserem Dorfe hieß:

»Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!«

»Und warum denn nicht?«

»Weil sie nicht müde werden.«

»Und warum denn nicht?«

»Weil sie Narren sind.«

»Werden denn Narren nicht müde?«

»Wie könnten Narren müde werden!«




Entlarvung eines Bauernfängers


Endlich gegen 10 Uhr abends kam ich mit einem mir von früher her nur
flüchtig bekannten Mann, der sich mir diesmal unversehens wieder
angeschlossen und mich zwei Stunden lang in den Gassen herumgezogen
hatte, vor dem herrschaftlichen Hause an, in das ich zu einer
Gesellschaft geladen war.

»So!« sagte ich und klatschte in die Hände zum Zeichen der unbedingten
Notwendigkeit des Abschieds. Weniger bestimmte Versuche hatte ich schon
einige gemacht. Ich war schon ganz müde.

»Gehn Sie gleich hinauf?« fragte er. In seinem Munde hörte ich ein
Geräusch wie vom Aneinanderschlagen der Zähne.

»Ja.«

Ich war doch eingeladen, ich hatte es ihm gleich gesagt. Aber ich war
eingeladen, hinaufzukommen, wo ich schon so gerne gewesen wäre, und
nicht hier unten vor dem Tor zu stehn und an den Ohren meines Gegenübers
vorüberzuschauen. Und jetzt noch mit ihm stumm zu werden, als seien wir
zu einem langen Aufenthalt auf diesem Fleck entschlossen. Dabei nahmen
an diesem Schweigen gleich die Häuser rings herum ihren Anteil, und das
Dunkel über ihnen bis zu den Sternen. Und die Schritte unsichtbarer
Spaziergänger, deren Wege zu erraten man nicht Lust hatte, der Wind, der
immer wieder an die gegenüberliegende Straßenseite sich drückte, ein
Grammophon, das gegen die geschlossenen Fenster irgendeines Zimmers
sang, -- sie ließen aus diesem Schweigen sich hören, als sei es ihr
Eigentum seit jeher und für immer.

Und mein Begleiter fügte sich in seinem und -- nach einem Lächeln --
auch in meinem Namen, streckte die Mauer entlang den rechten Arm
aufwärts und lehnte sein Gesicht, die Augen schließend, an ihn.

Doch dieses Lächeln sah ich nicht mehr ganz zu Ende, denn Scham drehte
mich plötzlich herum. Erst an diesem Lächeln also hatte ich erkannt, daß
das ein Bauernfänger war, nichts weiter. Und ich war doch schon Monate
lang in dieser Stadt, hatte geglaubt, diese Bauernfänger durch und durch
zu kennen, wie sie bei Nacht aus Seitenstraßen, die Hände vorgestreckt,
wie Gastwirte uns entgegentreten, wie sie sich um die Anschlagsäule, bei
der wir stehen, herumdrücken, wie zum Versteckenspielen und hinter der
Säulenrundung hervor zumindest mit einem Auge spionieren, wie sie in
Straßenkreuzungen, wenn wir ängstlich werden, auf einmal vor uns schweben
auf der Kante unseres Trottoirs! Ich verstand sie doch so gut, sie waren
ja meine ersten städtischen Bekannten in den kleinen Wirtshäusern gewesen,
und ich verdankte ihnen den ersten Anblick einer Unnachgiebigkeit, die
ich mir jetzt so wenig von der Erde wegdenken konnte, daß ich sie schon
in mir zu fühlen begann. Wie standen sie einem noch gegenüber, selbst
wenn man ihnen schon längst entlaufen war, wenn es also längst nichts
mehr zu fangen gab! Wie setzten sie sich nicht, wie fielen sie nicht
hin, sondern sahen einen mit Blicken an, die noch immer, wenn auch nur
aus der Ferne, überzeugten! Und ihre Mittel waren stets die gleichen:
Sie stellten sich vor uns hin, so breit sie konnten; suchten uns
abzuhalten von dort, wohin wir strebten; bereiteten uns zum Ersatz eine
Wohnung in ihrer eigenen Brust, und bäumte sich endlich das gesammelte
Gefühl in uns auf, nahmen sie es als Umarmung, in die sie sich warfen,
das Gesicht voran.

Und diese alten Späße hatte ich diesmal erst nach so langem Beisammensein
erkannt. Ich zerrieb mir die Fingerspitzen an einander, um die Schande
ungeschehen zu machen.

Mein Mann aber lehnte hier noch wie früher, hielt sich noch immer für
einen Bauernfänger, und die Zufriedenheit mit seinem Schicksal rötete
ihm die freie Wange.

»Erkannt!« sagte ich und klopfte ihm noch leicht auf die Schulter.
Dann eilte ich die Treppe hinauf und die so grundlos treuen Gesichter
der Dienerschaft oben im Vorzimmer freuten mich wie eine schöne
Überraschung. Ich sah sie alle der Reihe nach an, während man mir den
Mantel abnahm und die Stiefel abstaubte. Aufatmend und langgestreckt
betrat ich dann den Saal.




Der plötzliche Spaziergang


Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu
Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim
beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen
hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn
draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben
selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch
stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen
müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor
gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen
Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen
erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut,
je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr
oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse
wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die
man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn
man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich
gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung
erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste
Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die
langen Gassen hinläuft, -- dann ist man für diesen Abend gänzlich aus
seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man
selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel
schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.

Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen
Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.




Entschlüsse


Aus einem elenden Zustand sich zu erheben, muß selbst mit gewollter
Energie leicht sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch,
mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die
Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße A.
stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde B. freundlich in meinem
Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz Schmerz und Mühe mit
langen Zügen in mich hinein.

Aber selbst wenn es so geht, wird mit jedem Fehler, der nicht ausbleiben
kann, das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken, und ich werde
mich im Kreise zurückdrehen müssen.

Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere Masse
sich verhalten und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen
Schritt sich ablocken lassen, den anderen mit Tierblick anschaun, keine
Reue fühlen, kurz, das, was vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit
eigener Hand niederdrücken, d. h., die letzte grabmäßige Ruhe noch
vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen lassen.

Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das
Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen.




Der Ausflug ins Gebirge


»Ich weiß nicht«, rief ich ohne Klang, »ich weiß ja nicht. Wenn
niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses
getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen.
Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur daß mir niemand hilft --,
sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern -- warum denn
nicht -- einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen.
Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand
aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme,
diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, daß
alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken,
die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge
frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.«




Das Unglück des Junggesellen


Es scheint so arg, Junggeselle zu bleiben, als alter Mann unter
schwerer Wahrung der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend
mit Menschen verbringen will, krank zu sein und aus dem Winkel seines
Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehn, immer vor dem Haustor
Abschied zu nehmen, niemals neben seiner Frau sich die Treppe
hinaufzudrängen, in seinem Zimmer nur Seitentüren zu haben, die in
fremde Wohnungen führen, sein Nachtmahl in einer Hand nach Hause zu
tragen, fremde Kinder anstaunen zu müssen und nicht immerfort
wiederholen zu dürfen: »Ich habe keine«, sich im Aussehn und Benehmen
nach ein oder zwei Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden.

So wird es sein, nur daß man auch in Wirklichkeit heute und später
selbst dastehen wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also
auch einer Stirn, um mit der Hand an sie zu schlagen.




Der Kaufmann


Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben, aber ich spüre
nichts davon. Mein kleines Geschäft erfüllt mich mit Sorgen, die mich
innen an Stirne und Schläfen schmerzen, aber ohne mir Zufriedenheit in
Aussicht zu stellen, denn mein Geschäft ist klein.

Für Stunden im voraus muß ich Bestimmungen treffen, das Gedächtnis des
Hausdieners wachhalten, vor befürchteten Fehlern warnen und in einer
Jahreszeit die Moden der folgenden berechnen, nicht wie sie unter Leuten
meines Kreises herrschen werden, sondern bei unzugänglichen
Bevölkerungen auf dem Lande.

Mein Geld haben fremde Leute; ihre Verhältnisse können mir nicht
deutlich sein; das Unglück, das sie treffen könnte, ahne ich nicht; wie
könnte ich es abwehren! Vielleicht sind sie verschwenderisch geworden
und geben ein Fest in einem Wirtshausgarten und andere halten sich für
ein Weilchen auf der Flucht nach Amerika bei diesem Feste auf.

Wenn nun am Abend eines Werketages das Geschäft gesperrt wird und ich
plötzlich Stunden vor mir sehe, in denen ich für die ununterbrochenen
Bedürfnisse meines Geschäftes nichts werde arbeiten können, dann wirft
sich meine am Morgen weit vorausgeschickte Aufregung in mich, wie eine
zurückkehrende Flut, hält es aber in mir nicht aus und ohne Ziel reißt
sie mich mit.

Und doch kann ich diese Laune gar nicht benützen und kann nur nach
Hause gehn, denn ich habe Gesicht und Hände schmutzig und verschwitzt,
das Kleid fleckig und staubig, die Geschäftsmütze auf dem Kopfe und von
Kistennägeln zerkratzte Stiefel. Ich gehe dann wie auf Wellen, klappere
mit den Fingern beider Hände und mir entgegenkommenden Kindern fahre ich
über das Haar.

Aber der Weg ist zu kurz. Gleich bin ich in meinem Hause, öffne die
Lifttür und trete ein.

Ich sehe, daß ich jetzt und plötzlich allein bin. Andere, die über
Treppen steigen müssen, ermüden dabei ein wenig, müssen mit eilig
atmenden Lungen warten, bis man die Tür der Wohnung öffnen kommt, haben
dabei einen Grund für Ärger und Ungeduld, kommen jetzt ins Vorzimmer, wo
sie den Hut aufhängen, und erst bis sie durch den Gang an einigen
Glastüren vorbei in ihr eigenes Zimmer kommen, sind sie allein.

Ich aber bin gleich allein im Lift, und schaue, auf die Knie gestützt,
in den schmalen Spiegel. Als der Lift sich zu heben anfängt, sage ich:

»Seid still, tretet zurück, wollt Ihr in den Schatten der Bäume, hinter
die Draperien der Fenster, in das Laubengewölbe?«

Ich rede mit den Zähnen und die Treppengeländer gleiten an den
Milchglasscheiben hinunter wie stürzendes Wasser.

»Flieget weg; Euere Flügel, die ich niemals gesehen habe, mögen Euch ins
dörfliche Tal tragen oder nach Paris, wenn es Euch dorthin treibt.

Doch genießet die Aussicht des Fensters, wenn die Prozessionen aus
allen drei Straßen kommen, einander nicht ausweichen, durcheinander gehn
und zwischen ihren letzten Reihen den freien Platz wieder entstehen
lassen. Winket mit den Tüchern, seid entsetzt, seid gerührt, lobet die
schöne Dame, die vorüberfährt.

Geht über den Bach auf der hölzernen Brücke, nickt den badenden Kindern
zu und staunet über das Hurra der tausend Matrosen auf dem fernen
Panzerschiff.

Verfolget nur den unscheinbaren Mann und wenn Ihr ihn in einen Torweg
gestoßen habt, beraubt ihn und seht ihm dann, jeder die Hände in den
Taschen, nach, wie er traurig seines Weges in die linke Gasse geht.

Die verstreut auf ihren Pferden galoppierende Polizei bändigt die Tiere
und drängt Euch zurück. Lasset sie, die leeren Gassen werden sie
unglücklich machen, ich weiß es. Schon reiten sie, ich bitte, paarweise
weg, langsam um die Straßenecken, fliegend über die Plätze.«

Dann muß ich aussteigen, den Aufzug hinunterlassen, an der Türglocke
läuten, und das Mädchen öffnet die Tür, während ich grüße.




Zerstreutes Hinausschaun


Was werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch kommen?
Heute früh war der Himmel grau, geht man aber jetzt zum Fenster, so ist
man überrascht und lehnt die Wange an die Klinke des Fensters.

Unten sieht man das Licht der freilich schon sinkenden Sonne auf dem
Gesicht des kindlichen Mädchens, das so geht und sich umschaut, und
zugleich sieht man den Schatten des Mannes darauf, der hinter ihm
rascher kommt.

Dann ist der Mann schon vorübergegangen und das Gesicht des Kindes ist
ganz hell.




Der Nachhauseweg


Man sehe die Überzeugungskraft der Luft nach dem Gewitter! Meine
Verdienste erscheinen mir und überwältigen mich, wenn ich mich auch
nicht sträube.

Ich marschiere und mein Tempo ist das Tempo dieser Gassenseite, dieser
Gasse, dieses Viertels. Ich bin mit Recht verantwortlich für alle
Schläge gegen Türen, auf die Platten der Tische, für alle Trinksprüche,
für die Liebespaare in ihren Betten, in den Gerüsten der Neubauten, in
dunklen Gassen an die Häusermauern gepreßt, auf den Ottomanen der
Bordelle.

Ich schätze meine Vergangenheit gegen meine Zukunft, finde aber beide
vortrefflich, kann keiner von beiden den Vorzug geben und nur die
Ungerechtigkeit der Vorsehung, die mich so begünstigt, muß ich tadeln.

Nur als ich in mein Zimmer trete, bin ich ein wenig nachdenklich, aber
ohne daß ich während des Treppensteigens etwas Nachdenkenswertes
gefunden hätte. Es hilft mir nicht viel, daß ich das Fenster gänzlich
öffne und daß in einem Garten die Musik noch spielt.




Die Vorüberlaufenden


Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann,
von weitem schon sichtbar -- denn die Gasse vor uns steigt an und es ist
Vollmond -- uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst
wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft
und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen.

Denn es ist Nacht, und wir können nicht dafür, daß die Gasse im
Vollmond vor uns aufsteigt, und überdies, vielleicht haben diese zwei
die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide
einen dritten, vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht
will der zweite morden, und wir würden Mitschuldige des Mordes,
vielleicht wissen die zwei nichts von einander, und es läuft nur jeder
auf eigene Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind es Nachtwandler,
vielleicht hat der erste Waffen.

Und endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein
getrunken? Wir sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn.




Der Fahrgast


Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig
unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt,
in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche
Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich
kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich
an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute
dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn. --
Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig.

Der Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe
den Stufen, zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob
ich sie betastet hätte. Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten
bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus
weißer kleinmaschiger Spitze, die linke Hand hält sie flach an die Wand,
der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe. Ihr
Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt
rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der
rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich
nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an
der Wurzel.

Ich fragte mich damals: Wieso kommt es, daß sie nicht über sich
verwundert ist, daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen
sagt?




Kleider


Oft wenn ich Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen sehe,
die über schönen Körper schön sich legen, dann denke ich, daß sie nicht
lange so erhalten bleiben, sondern Falten bekommen, nicht mehr gerade zu
glätten, Staub bekommen, der, dick in der Verzierung, nicht mehr zu
entfernen ist, und daß niemand so traurig und lächerlich sich wird
machen wollen, täglich das gleiche kostbare Kleid früh anzulegen und
abends auszuziehn.

Doch sehe ich Mädchen, die wohl schön sind und vielfache reizende
Muskeln und Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare
zeigen, und doch tagtäglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug
erscheinen, immer das gleiche Gesicht in die gleichen Handflächen legen
und von ihrem Spiegel widerscheinen lassen.

Nur manchmal am Abend, wenn sie spät von einem Feste kommen, scheint es
ihnen im Spiegel abgenützt, gedunsen, verstaubt, von allen schon gesehn
und kaum mehr tragbar.




Die Abweisung


Wenn ich einem schönen Mädchen begegne und sie bitte: »Sei so gut, komm
mit mir« und sie stumm vorübergeht, so meint sie damit:

»Du bist kein Herzog mit fliegendem Namen, kein breiter Amerikaner mit
indianischem Wuchs, mit wagrecht ruhenden Augen, mit einer von der Luft
der Rasenplätze und der sie durchströmenden Flüsse massierten Haut, Du
hast keine Reisen gemacht zu den großen Seen und auf ihnen, die ich weiß
nicht wo zu finden sind. Also ich bitte, warum soll ich, ein schönes
Mädchen, mit Dir gehn?«

»Du vergißt, Dich trägt kein Automobil in langen Stößen schaukelnd durch
die Gasse; ich sehe nicht die in ihre Kleider gepreßten Herren Deines
Gefolges, die Segensprüche für Dich murmelnd in genauem Halbkreis hinter
Dir gehn; Deine Brüste sind im Mieder gut geordnet, aber Deine Schenkel
und Hüften entschädigen sich für jene Enthaltsamkeit; Du trägst ein
Taffetkleid mit plissierten Falten, wie es im vorigen Herbste uns
durchaus allen Freude machte, und doch lächelst Du -- diese Lebensgefahr
auf dem Leibe -- bisweilen.«

»Ja, wir haben beide recht und, um uns dessen nicht unwiderleglich
bewußt zu werden, wollen wir, nicht wahr, lieber jeder allein nach Hause
gehn.«




Zum Nachdenken für Herrenreiter


Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen
der erste sein zu wollen.

Der Ruhm, als der beste Reiter eines Landes anerkannt zu werden, freut
beim Losgehn des Orchesters zu stark, als daß sich am Morgen danach die
Reue verhindern ließe.

Der Neid der Gegner, listiger, ziemlich einflußreicher Leute, muß uns in
dem engen Spalier schmerzen, das wir nun durchreiten nach jener Ebene,
die bald vor uns leer war bis auf einige überrundete Reiter, die klein
gegen den Rand des Horizonts anritten.

Viele unserer Freunde eilen den Gewinn zu beheben und nur über die
Schultern weg schreien sie von den entlegenen Schaltern ihr Hurra zu
uns; die besten Freunde aber haben gar nicht auf unser Pferd gesetzt, da
sie fürchteten, käme es zum Verluste, müßten sie uns böse sein, nun
aber, da unser Pferd das erste war und sie nichts gewonnen haben, drehn
sie sich um, wenn wir vorüberkommen und schauen lieber die Tribünen
entlang.

Die Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu
überblicken, das sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen
irgendwie zugefügt wird; sie nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse
ein neues Rennen anfangen und ein ernsthaftes nach diesem Kinderspiel.

Vielen Damen scheint der Sieger lächerlich, weil er sich aufbläht und
doch nicht weiß, was anzufangen mit dem ewigen Händeschütteln,
Salutieren, Sich-Niederbeugen und In-die-Ferne-Grüßen, während die
Besiegten den Mund geschlossen haben und die Hälse ihrer meist
wiehernden Pferde leichthin klopfen.

Endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen an.




Das Gassenfenster


Wer verlassen lebt und sich doch hie und da irgendwo anschließen möchte,
wer mit Rücksicht auf die Veränderungen der Tageszeit, der Witterung,
der Berufsverhältnisse und dergleichen ohne weiteres irgend einen
beliebigen Arm sehen will, an dem er sich halten könnte, -- der wird es
ohne ein Gassenfenster nicht lange treiben. Und steht es mit ihm so, daß
er gar nichts sucht und nur als müder Mann, die Augen auf und ab
zwischen Publikum und Himmel, an seine Fensterbrüstung tritt, und er
will nicht und hat ein wenig den Kopf zurückgeneigt, so reißen ihn doch
unten die Pferde mit in ihr Gefolge von Wagen und Lärm und damit endlich
der menschlichen Eintracht zu.




Wunsch, Indianer zu werden


Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden
Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem
zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen,
bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land
vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und
Pferdekopf.




Die Bäume


Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf,
und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann
man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar
das ist nur scheinbar.




Unglücklichsein


Als es schon unerträglich geworden war -- einmal gegen Abend im November
-- und ich über den schmalen Teppich meines Zimmers wie in einer
Rennbahn einherlief, durch den Anblick der beleuchteten Gasse
erschreckt, wieder wendete, und in der Tiefe des Zimmers, im Grund des
Spiegels doch wieder ein neues Ziel bekam, und aufschrie, um nur den
Schrei zu hören, dem nichts antwortet und dem auch nichts die Kraft des
Schreiens nimmt, der also aufsteigt, ohne Gegengewicht, und nicht
aufhören kann, selbst wenn er verstummt, da öffnete sich aus der Wand
heraus die Tür, so eilig, weil doch Eile nötig war und selbst die
Wagenpferde unten auf dem Pflaster wie wildgewordene Pferde in der
Schlacht, die Gurgeln preisgegeben, sich erhoben.

Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Korridor, in dem
die Lampe noch nicht brannte, und blieb auf den Fußspitzen stehn, auf
einem unmerklich schaukelnden Fußbodenbalken. Von der Dämmerung des
Zimmers gleich geblendet, wollte es mit dem Gesicht rasch in seine
Hände, beruhigte sich aber unversehens mit dem Blick zum Fenster, vor
dessen Kreuz der hochgetriebene Dunst der Straßenbeleuchtung endlich
unter dem Dunkel liegen blieb. Mit dem rechten Ellbogen hielt es sich
vor der offenen Tür aufrecht an der Zimmerwand und ließ den Luftzug von
draußen um die Gelenke der Füße streichen, auch den Hals, auch die
Schläfen entlang.

Ich sah ein wenig hin, dann sagte ich »Guten Tag« und nahm meinen Rock
vom Ofenschirm, weil ich nicht so halb nackt dastehen wollte. Ein
Weilchen lang hielt ich den Mund offen, damit mich die Aufregung durch
den Mund verlasse. Ich hatte schlechten Speichel in mir, im Gesicht
zitterten mir die Augenwimpern, kurz, es fehlte mir nichts, als gerade
dieser allerdings erwartete Besuch.

Das Kind stand noch an der Wand auf dem gleichen Platz, es hatte die
rechte Hand an die Mauer gepreßt und konnte, ganz rotwangig, dessen
nicht satt werden, daß die weißgetünchte Wand grobkörnig war und die
Fingerspitzen rieb. Ich sagte: »Wollen Sie tatsächlich zu mir? Ist es
kein Irrtum? Nichts leichter als ein Irrtum in diesem großen Hause. Ich
heiße Soundso, wohne im dritten Stock. Bin ich also der, den Sie
besuchen wollen?«

»Ruhe, Ruhe!« sagte das Kind über die Schulter weg, »alles ist schon
richtig.«

»Dann kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Tür
schließen.«

»Die Tür habe ich jetzt gerade geschlossen. Machen Sie sich keine Mühe.
Beruhigen Sie sich überhaupt.«

»Reden Sie nicht von Mühe. Aber auf diesem Gange wohnt eine Menge Leute,
alle sind natürlich meine Bekannten; die meisten kommen jetzt aus den
Geschäften; wenn sie in einem Zimmer reden hören, glauben sie einfach
das Recht zu haben, aufzumachen und nachzuschaun, was los ist. Es ist
einmal schon so. Diese Leute haben die tägliche Arbeit hinter sich; wem
würden sie sich in der provisorischen Abendfreiheit unterwerfen!
Übrigens wissen Sie es ja auch. Lassen Sie mich die Türe schließen.«

»Ja was ist denn? Was haben Sie? Meinetwegen kann das ganze Haus
hereinkommen. Und dann noch einmal: Ich habe die Türe schon geschlossen,
glauben Sie denn, nur Sie können die Türe schließen? Ich habe sogar mit
dem Schlüssel zugesperrt.«

»Dann ist gut. Mehr will ich ja nicht. Mit dem Schlüssel hätten Sie gar
nicht zusperren müssen. Und jetzt machen Sie es sich nur behaglich,
wenn Sie schon einmal da sind. Sie sind mein Gast. Vertrauen Sie mir
völlig. Machen Sie sich nur breit ohne Angst. Ich werde Sie weder zum
Hierbleiben zwingen, noch zum Weggehn. Muß ich das erst sagen? Kennen
Sie mich so schlecht?«

»Nein. Sie hätten das wirklich nicht sagen müssen. Noch mehr, Sie hätten
es gar nicht sagen sollen. Ich bin ein Kind; warum soviel Umstände mit
mir machen?«

»So schlimm ist es nicht. Natürlich, ein Kind. Aber gar so klein sind
Sie nicht. Sie sind schon ganz erwachsen. Wenn Sie ein Mädchen wären,
dürften Sie sich nicht so einfach mit mir in einem Zimmer einsperren.«

»Darüber müssen wir uns keine Sorge machen. Ich wollte nur sagen: Daß
ich Sie so gut kenne, schützt mich wenig, es enthebt Sie nur der
Anstrengung, mir etwas vorzulügen. Trotzdem aber machen Sie mir
Komplimente. Lassen Sie das, ich fordere Sie auf, lassen Sie das. Dazu
kommt, daß ich Sie nicht überall und immerfort kenne, gar bei dieser
Finsternis. Es wäre viel besser, wenn Sie Licht machen ließen. Nein,
lieber nicht. Immerhin werde ich mir merken, daß Sie mir schon gedroht
haben.«

»Wie? Ich hätte Ihnen gedroht? Aber ich bitte Sie. Ich bin ja so froh,
daß Sie endlich hier sind. Ich sage >endlich<, weil es schon so spät
ist. Es ist mir unbegreiflich, warum Sie so spät gekommen sind. Da ist
es möglich, daß ich in der Freude so durcheinander gesprochen habe und
daß Sie es gerade so verstanden haben. Daß ich so gesprochen habe, gebe
ich zehnmal zu, ja ich habe Ihnen mit Allem gedroht, was Sie wollen. --
Nur keinen Streit, um Himmelswillen! -- Aber wie konnten Sie es glauben?
Wie konnten Sie mich so kränken? Warum wollen Sie mir mit aller Gewalt
dieses kleine Weilchen Ihres Hierseins verderben? Ein fremder Mensch
wäre entgegenkommender als Sie.«

»Das glaube ich; das war keine Weisheit. So nah, als Ihnen ein fremder
Mensch entgegenkommen kann, bin ich Ihnen schon von Natur aus. Das
wissen Sie auch, wozu also die Wehmut? Sagen Sie, daß Sie Komödie
spielen wollen, und ich gehe augenblicklich.«

»So? Auch das wagen Sie mir zu sagen? Sie sind ein wenig zu kühn. Am
Ende sind Sie doch in meinem Zimmer. Sie reiben Ihre Finger wie verrückt
an meiner Wand. Mein Zimmer, meine Wand! Und außerdem ist das, was Sie
sagen, lächerlich, nicht nur frech. Sie sagen, Ihre Natur zwinge Sie,
mit mir in dieser Weise zu reden. Wirklich? Ihre Natur zwingt Sie? Das
ist nett von Ihrer Natur. Ihre Natur ist meine, und wenn ich mich von
Natur aus freundlich zu Ihnen verhalte, so dürfen auch Sie nicht
anders.«

»Ist das freundlich?«

»Ich rede von früher.«

»Wissen Sie, wie ich später sein werde?«

»Nichts weiß ich.«

Und ich ging zum Nachttisch hin, auf dem ich die Kerze anzündete. Ich
hatte in jener Zeit weder Gas noch elektrisches Licht in meinem Zimmer.
Ich saß dann noch eine Weile beim Tisch, bis ich auch dessen müde wurde,
den Überzieher anzog, den Hut vom Kanapee nahm und die Kerze ausblies.
Beim Hinausgehen verfing ich mich in ein Sesselbein.

Auf der Treppe traf ich einen Mieter aus dem gleichen Stockwerk.

»Sie gehen schon wieder weg, Sie Lump?« fragte er, auf seinen über zwei
Stufen ausgebreiteten Beinen ausruhend.

»Was soll ich machen?« sagte ich, »jetzt habe ich ein Gespenst im Zimmer
gehabt.«

»Sie sagen das mit der gleichen Unzufriedenheit, wie wenn Sie ein Haar
in der Suppe gefunden hätten.«

»Sie spaßen. Aber merken Sie sich, ein Gespenst ist ein Gespenst.«

»Sehr wahr. Aber wie, wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt?«

»Ja meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber
dieses Nichtglauben?«

»Sehr einfach. Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst
wirklich zu Ihnen kommt.«

»Ja, aber das ist doch die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst
ist die Angst vor der Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt.
Die habe ich geradezu großartig in mir.« Ich fing vor Nervosität an,
alle meine Taschen zu durchsuchen.

»Da Sie aber vor der Erscheinung selbst keine Angst hatten, hätten Sie
sie doch ruhig nach ihrer Ursache fragen können!«

»Sie haben offenbar noch nie mit Gespenstern gesprochen. Aus denen kann
man ja niemals eine klare Auskunft bekommen. Das ist ein Hinundher.
Diese Gespenster scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein,
als wir, was übrigens bei ihrer Hinfälligkeit kein Wunder ist.«

»Ich habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann.«

»Da sind Sie gut berichtet. Das kann man. Aber wer wird das machen?«

»Warum nicht? Wenn es ein weibliches Gespenst ist z. B.« sagte er und
schwang sich auf die obere Stufe.

»Ach so«, sagte ich, »aber selbst dann steht es nicht dafür.«

Ich besann mich. Mein Bekannter war schon so hoch, daß er sich, um mich
zu sehen, unter einer Wölbung des Treppenhauses vorbeugen mußte. »Aber
trotzdem«, rief ich, »wenn Sie mir dort oben mein Gespenst wegnehmen,
dann ist es zwischen uns aus, für immer.«

»Aber das war ja nur Spaß«, sagte er und zog den Kopf zurück.

»Dann ist es gut«, sagte ich und hätte jetzt eigentlich ruhig spazieren
gehen können. Aber weil ich mich gar so verlassen fühlte, ging ich
lieber hinauf und legte mich schlafen.

























              
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig
MDCCCCXIII


      

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